Festungen und Burgen

Nervös saß Julian in seinem Hotelzimmer. Hier in seiner Heimat. Die Heimat, die er vor über einem halben Jahr verlassen hatte. Für 45 Millionen hatte er das Schalkedress gegen das von Arsenal ausgetauscht. Man hatte es doch so von ihm erwartet. Er hatte wechseln müssen. Weil Sidney Sam gekommen war, weil Lewis zurückgekehrt war. Weil jeder erwartet hatte, dass er nun ging. Selbst Schalke hatte nicht mal richtig um ihn gebuhlt, sondern war fast davon ausgegangen, dass er gehen wollte. Und deswegen war er gegangen. Obwohl er nie hatte gehen wollen.
Und jetzt... Jetzt war er bei Arsenal, saß dort größtenteils auf der Bank. Wie schlecht er doch war. Welch Fehlkauf. Wäre er doch nie gegangen. Was hatte er nicht schon alles gelesen. Erst hatte er gehen sollen und jetzt schrieben alle, es war genau das Falsche gewesen.
Aber er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Er hatte seine Emotionen weggeschlossen, gab sich nach außen stark, auch wenn es ihn innerlich zerriss. Und gleich musste er los. Zurück in das Stadion, das ihm lange Zeit ein Zuhause gewesen war. Er hatte Angst. Er wusste, dass man ihm den Wechsel übel nahm und er wusste, dass er verspottet wurde, weil er es nicht geschafft hatte, sich durchzusetzen.
Mit festem Druck presste er das Handtuch an seine Hüfte. Genau auf die Stelle, aus der das Blut floss. Es war nicht so, dass er das immer tat, dass er sich selbst verletzte. Aber manchmal hielt er es nicht anders aus. Wie heute. Aber er hatte es ja noch unter Kontrolle. Er achtete ja auch darauf, dass es niemand sah. Deswegen diese Stelle. Deswegen trainierte er ja auch immer länger als alle anderen, damit er nicht mit ihnen zusammen duschen musste. Und wenn doch stellte er sich irgendwo in eine Ecke. So genau sah zum Glück keiner hin. Es war nur so, dass es ihn irgendwie beruhigte. Dass es für einen Moment den ganzen anderen Schmerz überdeckte, der unter der Oberfläche schlummerte.
Ein Klopfen gegen die Tür sagte ihm, dass sie nun los mussten und so zog er sich schnell um und machte sich auf den Weg zum Mannschaftsbus. Gleich würde er sie alle wiedersehen. Benni und die anderen. Und die Fans, die ihm den Wechsel noch übel nahmen...

Benni saß in der Kabine, vor dem Spiel gegen Arsenal. Für sie ging es heute um alles, es war das letzte Spiel der Gruppenphase und Benni sollte sich eigentlich voll und ganz auf das Spiel konzentrieren. Wenn sie heute gewannen, dann wären sie weiter, wenn nicht, würde ihr Weg sie nur in die Europa League führen. Gegen Arsenal, die leider ein verdammt harter Brocken waren, alles andere als leicht.
Benni hatte sich auf das Spiel gefreut, bedeutete es doch, dass er Julian mal wieder sehen würde. Seit dessen Wechsel nach der WM hatten sie sich nur selten gesehen, bei der Nationalmannschaft eben. Gelegentlich hatten sie noch Zeit gefunden zu skypen, aber es war definitiv nichts im Vergleich zu der Zeit, die sie früher miteinander verbracht hatten.
Vor allem in den letzten Wochen... das letzte Mal, dass sie miteinander geredet hatten, war beim Hinspiel vor fast zwei Monaten gewesen.
Aber jetzt stand erst einmal anderes auf dem Plan und Benni stand auf und verließ die Kabine, stellte sich schon einmal ganz vorne, an seinen Platz in der Reihe. Im Vorbeigehen schüttelte er Per und Mesut die Hand und als er Julian sah, winkte er ihn mit einem breiten Grinsen zu sich.

Dass Jule tatsächlich spielte, glich einem Wunder und war wohl dem Verletzungspech zum einen und der Tatsache, dass sie ohnehin schon weiter waren zum anderen geschuldet. Mit seinem Können hatte das nichts zu tun. Seine Krise letztes Jahr auf Schalke war dagegen ein Klacks gewesen. Da war er einfach schlecht gewesen. Aber da hatte er wenigstens neben dem Platz auch noch lachen können. Das konnte er jetzt nicht mehr.
Als er Benni sah, der ihm so fröhlich zuwinkte, konnte er sich nur ein schiefes Grinsen ins Gesicht meißeln. Aber richtig lächeln? Das konnte er schon seit Wochen nicht mehr. Entweder es ging ihm richtig schlecht oder er fühlte nur Leere in sich. Nur wusste er nicht, was schlimmer war.
Er nahm sein Einlaufkind an die Hand, betrat das Stadion, in das er früher so gerne eingelaufen war. Früher... Jetzt hatte er nur Angst.
Als das große Händeschütteln kam, traute er sich gar nicht, seinen ehemaligen Mitspielern in die Augen zu sehen. Er konnte ihnen nicht mehr in die Augen schauen. Es ging nicht.
Das Spiel wurde angepfiffen und wie erwartet wurde er bei seinem ersten Ballkontakt direkt ausgepfiffen. Tapfer versuchte er, sich nichts anmerken zu lassen, allerdings wirkte es sich doch negativ auf seine Leistung aus, die geprägt war von Unsicherheiten und Ballverlusten. Es war eine Katastrophe und gefühlt wurde er von Minute zu Minute noch schlechter.

Julian wirkte heute nicht so ganz bei der Sache, fiel Benni auf. Er wusste ja immerhin, wie Julian spielen konnte, wenn er gut war und auch, wie er spielte, wenn er nicht bei der Sache war. Immerhin hatte er doch dreieinhalb Jahre mit ihm zusammengespielt, war immer eng mit ihm befreundet gewesen, hatte sich am Anfang ein wenig als sein Mentor verstanden und auch wenn er es nur ungern zugab, jetzt schaute er regelmäßig die Spiele von Arsenal, um Julian spielen zu sehen. Und das, was er heute aus nächster Nähe geboten war, war alles andere als schön anzusehen. Mühelos schaffte er es, Julian den Ball abzunehmen und einen Schalker Konter einzuleiten... das war nicht ganz normal. Benni hatte oft im Training Zweikämpfe gegen Julian bestritten, oft mit ihm einfach so gekickt und immer war es eine Herausforderung gewesen. Standartmäßig war der Ausgang der gewesen, dass er Julian hinterher sah, der ihm wieder mal auf irgendeine mehr oder minder kreative Art den Ball abgeluchst hatte.
Aber heute... das war wirklich keine Glanzleistung.
Allerdings spielte der Rest der Mannschaft deutlich besser und so stand es zur Pause 1:1. Eine gute Ausgangsposition für die zweite Halbzeit also.
Als sie vom Platz gingen, nahm Benni Julian zur Seite. "Kleiner, was ist denn los mit dir? So kenn ich dich gar nicht?", fragte er, jetzt doch ein wenig besorgt. So wirklich gut sah Julian nicht aus. War er etwa nicht fit?

Das Gegentor ging wohl auch seine Kappe und mit dem Tor von Arsenal hatte er herzlich wenig zu tun. Er wusste nicht, wie andere Spieler das schafften, unter Pfiffen noch gut oder zumindest akzeptabel zu spielen. Er konnte sich so überhaupt nicht konzentrieren und er hoffte schon fast, dass er die zweite Halbzeit draußen bleiben durfte.
Als Benni ihn zur Seite nahm, fühlte er sich gleich nochmal schlechter und er bedauerte, dass heute kein Tag war, an dem er nichts als Leere fühlte. Dann würde es wenigstens nicht so weh tun.
"Nicht mein Tag", erklärte Jule nur ausweichend. Was sollte er auch sagen? Dass ihm alles zu viel war? Dass er seine Wohnung am liebsten gar nicht mehr verlassen würde? Dass er jeden Tag Angst hatte, zum Training zu gehen? Wie groß die Überwindung Tag für Tag war?
"Ich sollte... wieder in die Kabine."

Benni nickte zögerlich. "Wenn du meinst", meinte er.
Er wusste auch nicht so recht, was sie machen sollten, immerhin war Julian ziemlich außer Reichweite und anders als früher konnte Benni sich nicht mehr um ihn kümmern.
Als Julian vor einen guten Jahr seine Krise gehabt hatte, da hatte Benni sich schlimmstenfalls ins Auto setzen und zu ihm fahren können. Aber jetzt... er konnte anrufen. Wow! Es war klar gewesen, dass Julian irgendwann gehen würde, aber jetzt, wo er weg war, vermisste Benni ihn mehr, als er es selbst zugeben wollte.
"Jule?" rief er ihm noch nach, bevor dieser in der Kabine verschwand. "Magst du diesen Winter mitkommen? Wir fahren wieder auf unsere Hütte... und ich würd mich freuen, dich mal wieder zu sehen!"

Jule wollte schon wieder in die Kabine verschwinden, als Benni ihn noch mal rief und er drehte sich noch einmal zu ihm um. Es war nett gemeint von ihm und wenn Jule sich noch über irgendetwas freuen könnte, würde es ihn wohl freuen. Aber das wäre ohnehin sinnlos. Er konnte nicht mit.
"Nein, das geht nicht. Wir haben keine Winterpause."
Er würde nur an Heilig Abend nach Hause fliegen und am 1. Weihnachtsfeiertag schon wieder zurück. In England gab es eben keine Winterpause und er hatte keine Zeit, mal durchzuatmen. Es ging nur von Spiel zu Spiel. Immer dasselbe... und immer versagte er.
Schnell verschwand er wieder in die Kabine. Da musste er immerhin nicht daran denken, wie sehr er Benni eigentlich vermisste. Bei Schalke war Benni immer für ihn da gewesen. Hier in London hatte er niemanden.
Julian bekam erklärt, dass er auch die zweite Halbzeit erstmal weiterspielen sollte. Warum auch immer Wenger jetzt noch Vertrauen in ihn setzte... Er hatte Angst vor den nächsten 45 Minuten. Sie würden sicherlich nicht besser werden. Das wusste er genau.

Ach ja... die fehlende Winterpause. Benni schalt sich einen Idiot, dass er das vergessen hatte. So würde es wohl ewig dauern, bis er Julian mal wieder sehen könnte.
Das war wirklich schade... Benni vermisste ihn wirklich und würde sich freuen, wenn er ihn mal wieder sehen könnte. Für länger als ein paar Stunden vor allem. Seufzend machte er sich auf den Weg in die Kabine.
Jens spornte sie dort noch einmal richtig an, versetzte sie alle in eine leidenschaftliche, entschlossene Stimmung.
Sie würden das schon hinbekommen, da war Benni sich sicher. Sie packten das uns gewannen heute hier, ein einziges Tor reichte ihnen, wenn sie hinten dicht hielten. Und das würden sie tun, da war Benni sich sicher.
Doch als er nach der Halbzeit wieder auf dem Platz stand, war er viel zu unkonzentriert und anstatt sich auf Theo Walcott zu konzentrieren, schweiften seine Gedanken immer wieder zu Julian ab. Er musste sich zusammenreißen, verdammt!

Schon als Julian den Platz betrat, hatte er wahnsinnige Angst und wusste genau, dass er so nicht gut spielen konnte. Und genau so kam es auch. Er hatte zu sehr im Kopf, dass er schlecht war und mit diesen Gedanken konnte er auch unmöglich anders spielen. Auch Benni spielte nicht mehr wirklich konzentriert mit und dadurch sank Jules Konzentration nur noch mehr.
So sehr, dass er mal wieder eine Ball verdattelte und plötzlich war Max dann vor ihrem Tor und schoss den Ball über die Linie ins Netz. Und wieder mal war es Jules Schuld. Wie viele Gegentore hatte er diese Saison eigentlich schon verschuldet?
Wenigstens hatte das Trauerspiel damit auch ein Ende und Wenger wechselte ihn endlich aus. Mit gesenktem Kopf trabte Jule vom Feld, verschwand sofort in die Kabine zum Duschen. Immerhin war der Schnitt an seiner Seite noch frisch und da sollte er nicht riskieren, dass das jemand sah. Da verschwand er lieber gleich zu duschen und sparte sich das Versteckspiel nachher.

Nicht nur für Jule, auch für Benni endete das Spiel vorzeitig aus unerfreulichen Gründen. In einem ZWeikampf mit Walcott knickte er unglücklich um und auch, wenn der Mannschaftsarzt schon am Spielfeldrand sagen konnte, dass es keine ernsthafte Verletzung war, so humpelte Benni jetzt doch mit einem schmerzenden Fuß in die Kabine. Gezerrt war sein Knöchel und das hatte ihn jetzt dann doch ausgeknockt. Als er vor der Tür der Kabine stand, überlegte er einen Moment, doch dann betrat er ohne zu Zögern die Gästekabine. Immerhin war Julian ausgewechselt worden und wann, wenn nicht jetzt konnten sie ein bisschen Zeit miteinander verbringen?
"Jule?" fragte er und sah sich um. Nichts zu sehen, aber er hötte das Rauschen des Wassers in der Dusche.
"Jule? Kann ich reinkommen?" fragte er erneut, diemal lauter, sodass Julian ihn unter der Dusche noch hören musste.

Kraftlos stützte Jule sich gegen die Fliesen, während das Wasser über seinen Körper lief. Er wusste nicht, wie lange er das alles so noch aushalten konnte. Ihm fehlte doch schon jetzt die Kraft, weiterzumachen. Und manchmal... Manchmal wünschte er sich, dem Ganzen einfach ein Ende zu bereiten. Ein zu tiefer Schnitt an der richtigen Stelle, zu viele Tabletten mit zu viel Alkohol oder sein Auto, das von der Straße abkam und gegen einen Baum prallte. Er hatte sich schon Gedanken gemacht. Viel zu viele.
Als er Bennis Stimme hörte, schreckte er auf, stellte die Dusche ab und griff schnell nach seinem Handtuch, wickelte es um seine Hüfte. Er atmete tief durch, zog sich wieder in seine Festung zurück und setzte wieder das unechte Lächeln auf, das ihn die letzten Wochen und Monate begleitete, ehe er in die Kabine zurückging.
"Was machstn du hier? Solltest du nicht noch spielen?", fragte er, versuchte unbeirrt weiterzulächeln. Einfach immer lächeln... Vielleicht glaubte er dann ja sogar selbst wieder, dass es ihm gut ging. Auch wenn ihm dieses unechte Lächeln bei Benni so viel schwerer fiel...

Julian kam ihm entgegen und Benni grinste.
"Naja... frag Theo, warum ich nicht mehr spiele... umgeknickt, dann wars eben aus. Jetzt kann ich nur hoffen, dass die Jungs da oben es noch reißen."
Er humpelte zur Bank und setzte sich einfach irgendwo hin. Genau musterte er Julian und stellte fest, dass er wirklich nicht gut aussah. Er lächelte zwar, aber... irgendetwas war daran nicht normal, aber Benni konnte nicht so Recht in Worte fassen, was es war.
"Klingt aber auch schlimmer als es ist. Zerrung hat Rarreck gesagt, also werd ich wohl in zwei, drei Wochen wieder fit sein. Er lächelte.
"Und, wie gehts dir so?" fragte er neugierig. "Du hast ja ewig nicht mehr angerufen und ich hab keine Ahnung mehr, wies meinem Ex-Küken geht."

Glückspilz, dachte Jule sich. Wenn er sich was zerren würde, wäre er erleichtert. Aber er war ja gesund und musste so normal mittrainieren und auch spielen. Obwohl er dazu keine Kraft mehr hatte. Nur durfte er sich das nicht anmerken lassen und so lächelte er immer weiter. Lächeln und weiterlächeln. Bis er wieder in seiner Wohnung war, wo er allein war.
Dass Bennis Verletzung ein Grund wäre, mit dem Lächeln aufzuhören, kam ihm gar nicht mehr richtig in den Sinn. Zu trainiert war mittlerweile das falsche Lächeln.
"Ich hatte viel zu tun und gar keine Zeit. Deswegen konnte ich nicht anrufen."
Natürlich stimmte das so nicht. Er lag ja doch oft einfach nur in seinem Bett, lustlos und schlapp. Theoretisch hätte er das Zeit. Er hatte nur keine Kraft dafür.

Irritiert bemerkte Benni, dass sich in Julians Gesicht kaum etwas regte. Das Lächeln schien wie eingefroren und jetzt erst merkte Benni, dass es seine Augen nicht erreichte.
Wenn er an früher dachte, daran wie Julian früher ausgesehen hatte, mit diesen leuchtenden braunen Augen, die seine Emotionen widerspiegelten... damit hatte das Bild, dass sich ihm jetzt bot, nicht allzu viel zu tun. Matt wirkten seine Augen und irgendwie leer.
Offenbar ging es Julian wirklich nicht gut und Benni seufzte leise.
"Schade... aber die geht es gut, oder?" fragte er ihn eindringlich. "Fühlst du dich wohl in London?"
Allein war er ja nicht. Da war Benni ganz froh gewesen, dass er gerade zu Arsenal gegangen war. Wenger war ein guter Trainer, und Julian kannte Lukas, Per und Mesut, sodass er nicht ganz allein in der fremden Stadt sein musste.
Aber trotzdem machte Benni sich Sorgen... hatte er schon immer getan, Julian war, wenn er ehrlich war, das erste seiner Küken gewesen und noch dazu einer seiner engsten Freunde.

Benni sah ihn etwas skeptisch an, als würde er ihm nicht so recht glauben. Aber das musste er. Er musste stark bleiben und sich nichts anmerken lassen. Er hoffte immer noch, dass es besser werden würde. Dass er irgendwann aufwachte und er sich wohl fühlte und alles toll war.
"Klar, alles bestens", log er und schnappte sich seine Shorts aus seiner Tasche, zog sie sich umständlich unter dem Handtuch an. Aber ausziehen konnte er sich hier schlecht, wenn seine Hüfte noch immer von dem Schnitt geziert wurde.
"Ich meine, das ist London. Wer würde da nicht gerne leben?"
Abgesehen von ihm. London mochte eine schöne Stadt sein. Aber er fühlte sich nicht wohl. Er gehörte da einfach nicht hin. Es war alles zu voll, zu laut. Und auch sonst... Es war nicht seine Heimat und würde es auch niemals werden.
"Und bei dir so?"

Benni schmunzelte als Julian sich so umständlich anzuziehen begann.
"Seit wann genierst du dich vor mir?" fragte er amüsiert. Das war nach dreieinhalb Jahren in der selben Mannschaft irgendwann unangebracht und eigentlich hatte Julian nie ein besonders ausgeprägtes Schamgefühl gehabt. Seltsam...
"Bei mir... läuft schon", meinte er. "Ich mein, du siehst ja die Tabelle... könnte alles besser sein, aber wann läuft auf Schalke schon mal alles so, wie man es gerne will."
Aber wenn Benni sich Julian so anschaute, wirkte er nicht so, als wäre er in London glücklich.
"Ich würde nicht in London leben wollen", gab er zu. "Ich bleib lieber daheim."
Aber Julian hatte es wohl doch in die Welt hinausgezogen. Schade nur, dass es in offenbar nicht so ganz glücklich machte, wie Benni es ihm gewünscht hätte. "Wie läufts mit Lena?" erkundigte er sich. Was aus der Beziehung geworden war, wusste er gar nicht, Julian und er hatten in ihren wenigen Gesprächen wichtigere Themen gehabt als ihre Freundinnen.

Julian sah ertappt zu Boden. Er genierte sich ja eigentlich gar nicht, nur... Mit dem Schnitt konnte er nicht die Hüllen fallen lassen. Das ging keinesfalls. Benni würde nur sehen, was er getan hatte und es vollkommen überbewerten. Dabei bedeutete das doch gar nichts. Er hatte alles unter Kontrolle.
"Naja, ist ja noch genug Zeit, um in der Tabelle nach oben zu kommen", überlegte er. In der Winterpause konnte Schalke ja auch noch einkaufen. Geld hatten sie ja noch etwas durch seinen Verkauf.
Daheim bleiben... ja, das hätte er auch gewollt. Aber ihn hatte ja keiner gefragt. Es war ja immer klar gewesen, dass er gehen würde. Das hatte jeder gesagt. Weil er ja zu gut für Schalke war. Da musste er gehen.
Lena war auch so ein Thema... Das hatte nicht mehr funktioniert. Im Grunde hatte er sie schon länger nicht mehr richtig geliebt, hatte kurzzeitig sogar überlegt, ob Frauen das waren, was er wollte. Nach dem Outing von Hitzlsperger hatte er sich viele Gedanken gemacht. Aber er war bei Lena geblieben. Bis es endgültig nicht mehr geklappt hatte. Sie studierte in Bochum, er wohnte in London. Das klappte nicht.
"Ist aus", antwortete er nur knapp, schlüpfte in seine Trainingshose.

Benni zuckte mit den Schultern. "Du hast trotzdem ein ganz schönes Loch hinterlassen", meinte er. Max war noch zu jung, um diese Rolle komplett auszufüllen, auch wenn er und Leon gemeinsam mittlerweile definitv zu ihnen Schlüsselspielern gehörten.
"Hm... die Entfernung, oder?"
Selbst ihre Freundschaft hatte einen merklichen Knacks erlitten, wie sollte da eine Beziehung diese Entfernung überleben.
"Das tut mir Leid", meinte er.
Tat es wirklich... er war ja mittlerweile schmerzlicherweise wieder Single, das mit Lisa war nach über zehn Jahren zu Ende gegangen an unterschiedlichen Zukunftsvorstellungen.
"Hast du eigentlich heute Abend noch Zeit?" fragte Benni. "Ihr fliegt doch erst morgen wieder, oder? Magst du dann vielleicht heute Abend zu mir kommen?" Er würde sich freuen, wenn sie mal wieder Zeit miteinander verbringen konnten.

Wie hatte er denn ein Loch hinterlassen sollen? Man sah doch, wie schlecht er gerade spielte. Da vermisste ihn doch niemand. Viel mehr sollte man froh sein, dass man für ihn noch so viel Geld bekommen hatte.
"Ja... Ist schwer, wenn man sich kaum sieht." Vielleicht hätte es geklappt, wenn Jule wenigstens regelmäßig angerufen hätte. Aber stattdessen hatte er es meistens klingeln lassen und war auch nicht rangegangen, wenn sie angerufen hatte.
"Und was ist mit Lisa?"
Zeit hätte er wohl theoretisch. Aber eigentlich wollte er Benni nicht sehen. Da musste er nur wieder fröhlich sein. Dabei wollte er nur in sein Zimmer und sich hinlegen.
"Ja, aber... wir fliegen schon wieder ganz früh. Da muss ich früh ins Bett."

Beni zuckte mit den Schultern.
"Ich würd sagen, das gleiche wie mit Lena", meinte er mit einem gequälten Lächeln. "Ist aus, schon seit ner Weile."
Er seufzte.
Julian schien nicht zu wollen und versteckte das ganze hinter einer Ausrede nach der anderen.
"Du kannst doch im Flieger schlafen und ich fahr dich heut Abend auch noch wieder ins Hotel", schlug er vor.
Julian würde ohnehin ablehnen und das machte Benni ziemlich traurig. Er hatte das Gefühl, er kam gar nicht mehr wirklich an ihn ran. Kein Vergleich zu noch vor einem guten halben Jahr. Noch bei der WM hatten sie jede freie Minute miteinander verbracht und sich quasi blind verstanden. Jetzt kam Julian ihm völlig verändert vor.
Er wirkte viel älter und nachdenklicher. Dass so ein Wechsel einen veränderte, das konnte Benni sich denken. Aber dass es jemanden so komplett zu einem anderen Menschen machte... war das normal?
"Bitte... ich hab das Gefühl ich kenn dich gar nicht mehr und das ist ein verdammt beschissenes Gefühl."

Damit hatte Jule nicht gerechnet. Benni und Lisa waren doch so etwas wie das Traumpaar gewesen. Und immerhin waren es doch 10 gemeinsame Jahre gewesen.
Julian seufzte, als er Bennis Enttäuschung hörte. Dabei... Er wollte es doch nur allen recht machen. Er enttäuschte doch sowieso schon alle. Dann sollte er sich vielleicht wenigstens heute Abend anstrengen, Benni zuliebe. Dann war der immerhin auch beruhigt und würde ihn hoffentlich fürs Erste in Ruhe lassen. Es kam ja auch gar nicht drauf an, was er wollte. Das war doch schon lange egal. Dann war es auch heute egal. Würde er eben einen Abend lang durchlächeln, obwohl er lieber heulen würde.
"Aber... nur ein paar Stunden."

Benni lächelte dankbar. "Das reicht doch auch schon", meinte er zufrieden.
Er wollte nur mal wieder einen normalen Abend mit seinem besten Freund verbringen. Wobei... war Julian eigentlich noch sein bester Freund? Irgendwie ja nicht mehr... im Anbetracht der Tatsache, dass sie kaum noch etwas miteinander zu tun hatten. Aber andererseits... so einfach würde Benni das auch nicht aufgeben. Vielleicht musste er einfach ein bisschen öfter anrufen.
In diesem Moment ging ein Tosen durch die Veltinsarena und das konnte nur eines bedeuten. Benni lächelte zufrieden. "Haben die Jungs es also doch noch geschafft", stellte er erleichtert fest. Dieses Geräusch kannte er, nach all den Jahren konnte er schon an der Stimmung der Fans erkennen, wie es um das Spiel stand und das gerade war eindeutig ein Tor für Schalke gewesen.
Etwas verlegen sah er zu Julian. Es war doch ein wenig ungewohnt, sich nicht gemeinsam mit ihm über ein Tor zu freuen, sondern zu wissen, dass Julian zur gegnerischen Mannschaft gehörte.

Julian wusste nicht, was er über das Tor denken sollte. Benni hatte es da einfacher. Der konnte sich einfach freuen. Aber Julian... Was erwartete man in dem Fall von ihm? Dass er sich ärgerte, immerhin spielte er für Arsenal, aber sich gleichzeitig für Schalke freuen, weil es sein ehemaliger Verein war.
Also grinste er einfach schief.
"Ja... Klingt nach... euren Fans."
Bennis Fans. Nicht seinen. Das war nicht sein Verein, nicht seine Fans. Damit musste er sich jetzt einfach abfinden. Schalke war Vergangenheit. Zurückkehren konnte er ja auch nicht. Ihn wollte doch keiner mehr und außerdem wollte er nicht als gescheitertes Talent dastehen.
"Dann... treffen wir uns nachher einfach bei dir?"

Benni nickte.
Julian schien sich nicht so recht wohl zu fühlen und wirklich ehrlich wirkte sein Grinsen auch nicht. Er verstand einfach nicht, was mit ihm los war.
Natürlich lief es bei Arsenal für ihn nicht so glänzend, wie es jeder erwartete, aber das würde alles schon noch werden, da war Benni sich sicher. Julian würde noch richtig durchstarten und bestimmt noch einer von den ganz großen der Weltspitze werden.
"Okay... dann sehen wir uns nachher bei mir", meinte Benni lächelnd.
"Ich geh dann mal duschen."
Er stand auf und zog Julian in eine kurze, aber feste Umarmung, bevor er die Kabine verließ und in ihre eigene ging.

Julian verkrampfte sich, als Benni ihn in eine fester Umarmung zog. Erleichtert atmete er durch, als er wieder alleine war. Er hatte ja nichts gegen Benni. Aber er ertrug Gesellschaft eben nur sehr schwer.
Der restliche Tag lief erstmal nach dem üblichen Schema ab. Erstmal fuhr er mit der Mannschaft zurück ins Mannschaftshotel, um seine Sachen abzuladen. Praktischerweise war das Hotel auch in Düsseldorf, entsprechend brauchte er nicht lang zu Benni.
Wenn er sich denn aufraffen konnte... Während seine Teamkollegen größtenteils zusammen auf einem Zimmer waren und Playstation zockten, lag er allein in seinem Zimmer. Er hatte sich nur kurz hinlegen wollen - immerhin musste er gleich los - aber er hatte dasselbe Problem wie jeden Morgen. Er konnte sich nicht bewegen. Er lag nur da, erschöpft und erledigt, und sagte sich immer wieder, dass er aufstehen musste. Aber er konnte es einfach nicht.